Russland: Patriarch Kirill und der Ukraine-Krieg

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Putin und Kirill am 4.11.2016 bei der Einweihung eines Denkmals von Wladimir I. am russischen Nationalfeiertag, dem "Tag der Einheit des Volkes". Foto (Ausschnitt): Kremlin.ru/ CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.en

Ein „heiliger Krieg“? Aus Sicht von Putin und des russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill I. ist der Ukraine-Krieg genau das – auch wenn es niemand so nennt. Beide eint die historische Vorstellung eines russischen Großreichs als Gegenpol zum liberalen Westen.  

Drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich Patriarch Kirill I. ideologisch an die Seite von Präsident Wladimir Putin gestellt. In den folgenden Wochen legte das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche wiederholt nach. Während der Westen und Kirchenleitende das „Schweigen“ des Patriarchen zum Ukraine-Krieg beklagten, hatte sich Kirill bereits positioniert und seinem Präsidenten dazu noch eine religiöse Begründung für seinen Krieg geliefert.

Die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, Heimatkirche des russisch-orthodoxen Patriarchen Kirill I.
Die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, das zentrale Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Wer sich der russischen Armee in der Ukraine entgegenstellt, den zählte Kirill am 27. Februar zu den „Kräften des Bösen“. Laut mehreren Medienberichten hob der Patriarch in seiner Sonntagspredigt am 6. März in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale dann „Gay-Pride-Paraden“ als zentrales Element in einem „metaphysischen“ Kampf zwischen Ost und West hervor. Bedeutsam ist vor allem Kirills Entscheidung, den physischen Krieg in der Ukraine damit zu einem Verteidigungskampf der orthodoxen Glaubensüberzeugung gegenüber liberalen westlichen Werten zu stilisieren. Damit legitimiert er nicht nur den Krieg, er überhöht ihn religiös zu einem Glaubens- und Wertekrieg, zu einem Kampf des Westens gegen Russland, des Bösen gegen das Gute. Und er deutet Putins Angriffskrieg, analog zur russischen Propaganda, nebenbei in einen Defensivkrieg um.

Kirill und Putin: Gemeinsam gegen den liberalen Westen

Das Gebiet der "Kiewer Rus". Bild (Ausschnitt): Maksim/ CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en
Das Gebiet der mittelalterlichen „Kiewer Rus“. Karte (Ausschnitt): Maksim / CC BY-SA 3.0

Kirill stimmt perfekt ein in Putins Vorstellung von Russland, die auf „einer Abgrenzung vom Westen“ beruht, und in seine „fundamentale Feindseligkeit gegenüber dem liberalen Westen“ – so die Historiker Anna Kim und Philip Rosin in „Cicero“. Gleichzeitig sucht Putin die direkte Einflusssphäre Russlands zu erweitern und Geschichte zurückzudrehen. Seine machtpolitische Idee eines russischen Großreiches verknüpft sich dabei mit der historischen Idee eines „Heiligen Russlands“, in dem sich Territorium, Kultur und Religion verbinden.

Beide – Putin wie Kirill – berufen sich dabei auf ein altostslawisches Großreich aus dem 9. bis 13. Jahrhundert, die „Kiewer Rus“, auf dem Gebiet des heutigen Russlands, der Ukraine und Belarus’. Daher rührt auch die Rede vom „einen russischen Volk“, wie Jan Kusber, Osteuropa-Experte und Historiker der Universität Mainz, in einer ZDF-Dokumentation erläutert. Dort soll mit der Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir I., auf den sich Putin gerne bezieht, das russisch-orthodoxe Christentum seinen Anfang genommen haben. Und darauf bezieht sich auch Kirill, wenn er nach einem Videogespräch mit Papst Franziskus am 16. März durchaus mehrdeutig mitteilte, die Gottesmutter Maria sei „immer eine fleißige Fürsprecherin und Beschützerin der Heiligen Rus gewesen“. „Rus“ meint für Kirill, seinem Titel nach „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“, auch heute die Gesamtheit aus Russland, der Ukraine und Belarus (laut der früheren staatlichen russischen Nachrichtenagentur „RIA Nowosti“, 27. Juli 2008). Doch meint er damit das kirchenrechtliche Territorium „Rus“ – oder mehr? Für Stephan-Andreas Casdorff vom „Tagesspiegel“ ist klar: Kirill meint damit auch staatliches Territorium.

Die Nähe zwischen Präsident und Patriarch wächst

Wladimir Putin nimmt am 19. Januar 2018 (Epiphanias) ein traditionelles Eisbad (St. Nilus Stolobensky-Kloster).
Wladimir Putin nimmt am 19.1.2018 (Epiphanias-Tag) ein traditionelles Eisbad im Seligersee (Nilow-Kloster). Foto (Ausschnitt): Kremlin.ru/ CC BY 4.0

Überhaupt gibt es für die wachsende Verbindung zwischen Präsident und Patriarch in den vergangenen Jahren unzählige Belege, auch wenn Staat und Kirche laut Verfassung eigentlich getrennt sind. Es ist eine Win-win-Situation: Putin profitiert vom Einfluss der Kirche auf die große Mehrzahl der russischen Bürger. Die Kirche wiederum wird in der Gesetzgebung bedacht: 2013 erhielt sie einen Großteil ihres Eigentums zurück, das 1917 von den Bolschewiken enteignet worden war. Im gleichen Jahr ein Gesetz, das die „Beleidigung religiöser Gefühle“ zur Straftat machte.

Öffentliche Termine werden genutzt, um wechselseitige Nähe zu demonstrieren: Kirill unterstützt Putin im Wahlkampf (auch wenn er 2012 dessen Umgang mit der Meinungsfreiheit noch erstaunlich deutlich kritisierte). Putin nimmt am orthodoxen Epiphanias-Fest (Dreikönigstag) am 19. Januar öffentlichkeitswirksam das traditionelle Eisbad, trägt auf der gern zur Schau gestellten nackten Brust ein christliches Kreuz. Er küsst vor laufender Kamera Ikonen, bekreuzigt sich, zeigt sich gern mit dem Patriarchen. 2018 verglich er, der frühere KGB-Mann, die Mumie Lenins mit Reliquien Heiliger und christliche mit kommunistischen Werten.

Wie viel das alles aber mit einer neutestamentlichen Frömmigkeit zu tun hat, stellte 2018 der russische Journalist Andrej Loschak auf der unabhängigen Seite „Colta.ru“ infrage (deutsch auf der Internetplattform „Dekoder“): „Keiner der Hierarchen und Staatsmänner spricht von der zentralen Botschaft Christi: von Liebe und Vergebung. Das Wort Gottes ist hinter all diesen heiligen Mächten, wundertätigen Ikonen und Kirchenbannern auf pompösen Prozessionen überhaupt irgendwo verloren gegangen. Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen.“

Der Ökumenische Patriarch Bartholomäus übergibt das Dekret, das die Orthodoxe Kirche der Ukraine anerkennt, am 6. Januar 2019 an deren Oberhaupt, den Kiewer Metropoliten Epiphanius.
Der Ökumenische Patriarch Bartholomäus (li.) übergibt das Dekret, das die Orthodoxe Kirche der Ukraine anerkennt, am 6.1.2019 an deren Oberhaupt, den Kiewer Metropoliten Epiphanius. Foto (Ausschnitt): President.gov.ua/ CC BY 4.0

Grundsätzlich sind die orthodoxen Kirchen eng mit dem Staat und seinem Territorium verbunden. Es sind Nationalkirchen: Die russisch-orthodoxe Kirche mit rund 100 Millionen Gläubigen in Russland und etwa 50 Millionen im Ausland – etwa 70 Prozent der Russen bekennen sich zum russisch-orthodoxen Glauben, was sich allerdings meistens in einem Bekenntnis zur russischen Kultur ausdrückt und eher selten im Alltag praktiziert wird. In der Ukraine gibt es aktuell zwei orthodoxe Kirchen: die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK), die dem Moskauer Patriarchat Kirills untersteht. Seit Januar 2019 zusätzlich die eigenständige Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), gegründet als Reaktion auf die Ereignisse 2014, die russische Krim-Annexion und den von Russland befeuerten Kriegsbeginn in der Ostukraine.

Orthodoxe aus der Ukraine und russische Geistliche stellen sich gegen den Krieg

Beide orthodoxen Kirchen der Ukraine haben sich gegen den Krieg positioniert – die unabhängige deutlich stärker als die zu Moskau gehörige. Aber auch sie hat sich seit Putins Angriff von Moskau entfernt, sodass „viele Bischöfe der UOK in der Ukraine Anweisung gegeben haben, seinen Namen (des Patriarchen Kirill) nicht mehr im Gebet zu nennen, wie sonst üblich“, so Thomas Bremer, Professor für Ostkirchenkunde der Universität Münster, gegenüber der „Deutschen Welle“.

Bis zum 8. März hatten laut „Deutscher Welle“ sogar 286 Priester und Diakone aus der Russisch-Orthodoxen Kirche einen offenen Brief unterzeichnet, in dem sie ein Ende des Krieges fordern, ihrem Oberhaupt Kirill zum Trotz. Ein sehr mutiger Schritt – die Geistlichen müssen jetzt damit rechnen, im Visier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB zu sein. Allein den Krieg als „Krieg“ zu bezeichnen, steht seit 4. März unter Strafe: Bis zu 15 Jahre Haft drohen Medien für kritische Berichterstattung. Einige unabhängige Medienunternehmen wie „Colta“, „Snak“ oder der TV-Kanal „Doschd“ stellten daraufhin ihren Betrieb ein.

Evangelikale Pastoren aus Russland zeigen Mut

Mutig auch die Reaktion der Russischen Evangelischen Allianz: Generalsekretär Vitaly Vlasenko entschuldigte sich in einem offenen Brief bei allen Opfern und distanzierte sich vom Krieg. Anfang März hatten laut „Christianity Today“ bereits 400 evangelikale Pastoren aus Russland einen offenen Brief unterzeichnet und sich damit klar gegen den Krieg positioniert. Sie alle riskieren Geldstrafen, Straflager, Gefängnis. Evangelikale Leiter aus der Ukraine hatten zuvor beklagt, dass ihre russischen Kollegen zwar um Frieden beteten, sich mit klaren Stellungnahmen aber zurückgehalten hatten.

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