Religion – Mehr als Gedöns. Oder: Das Problem der Ententeich-Momente

„Gedöns“ nannte der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder die Politikbereiche Familie und Jugend. In Abgrenzung zu – vermeintlich – wirklich wichtigen wie Wirtschaft, Sicherheit und Verteidigung. Und so ähnlich verhält es sich auch mit der Frage, welche Bedeutung Religion heute – noch – hat. Viele, selbst kluge Menschen in Europa, würden wohl der folgenden Einschätzung zustimmen: „Religion ist für manche von Bedeutung, aber wirklich wichtig ist sie nicht und sie gehört doch zuerst und vor allem in den Bereich des Privaten.“

Kein Stein des gesellschaftlichen Gebäudes bleibt auf dem anderen
Doch wer so denkt, geht völlig an der Wirklichkeit vorbei, nicht erst seit es Terroranschläge von Islamisten gibt. Religion ist in einer Zeit, in der so vieles in Bewegung ist, wichtiger denn je, weil sie eine entscheidende Quelle für Sicherheit und Orientierung des Menschen ist. Sie ist zudem ein nicht zu unterschätzender Teil der kulturellen Prägung eines Menschen. Und die wird immer entscheidender in einer Zeit, in der sich alles zu verändern scheint, kein Stein des gesellschaftlichen Gebäudes auf dem anderen zu bleiben scheint: von der Veränderung der Wirtschaft bis zur Veränderung des Klimas.

Religion war immer wichtig und zentral, auch wenn das in westlichen europäischen Ländern, lange kaum noch wahrgenommen wurde und als überwunden galt. Die Bedeutung von Religion und Glauben zeigt sich nicht zuletzt auch da, wo sie geleugnet, abgelehnt oder bekämpft wird.

Ententeich-Momente
Der britische Historiker Timothy Garton Ash hat Recht, wenn er feststellt, dass im 20. Jahrhundert politische Ideologien die Demarkationslinie zwischen Menschen verschiedener Prägung ausmachte. Er erinnert an den Schriftsteller und Sozialdemokraten Heinrich Mann, der zu dem Versuch, mit dem deutschen Kommunisten Walter Ulbricht ein Bündnis gegen den Nationalsozialismus zu schließen, folgendes sagte: „Sehen Sie, ich kann mich nicht mit einem Mann an einen Tisch setzen, der plötzlich behauptet, der Tisch, an dem wir sitzen, sei kein Tisch, sondern ein Ententeich, und der mich zwingen will, dem zuzustimmen.“

Zivilisatorische Differenz
Für Garton Ash sind Verständigungsprobleme, solche Ententeich-Momente, im 20. Jahrhundert ideologisch bedingt. Im frühen 21. Jahrhundert sind seiner Ansicht nach vor allem religiöse und kulturelle Unterschiede die Hürden für ein Verständnis des anderen: „Je weiter wir uns ins 21. Jahrhundert hineinbewegen, umso mehr sind wir mit einem Phänomen konfrontiert, das sich am besten als Ideologien der zivilisatorischen Differenz beschreiben lässt. Das Kommunikationsproblem bleibt das gleiche: Wie kommt man an einem Punkt weiter, an dem man selbst sicher ist, dass man an einem Tisch sitzt, und der Gesprächspartner darauf besteht, es sei ein Ententeich?“

Der Blick auf die Religion ist deswegen so wichtig und bedeutsam, weil wir in einer Zeit leben, in der verschiedenste kulturelle Prägungen aufeinandertreffen, und das nicht erst, seitdem im Jahr 2015 viele Flüchtlinge ganz anderer religiöser und kultureller Prägung nach Deutschland kamen.

Ein Blick in die Kommentarspalten
Wer das nicht nachvollziehen mag, der schaue sich die Kommentarspalten in diesen Tagen an: Sie beschäftigen sich mit Themen, die ohne den Blick auf die Religion nicht einzuordnen und auch nicht zu verstehen sind: So die Diskussion um Nikab-tragende Schülerinnen und das Urteil zum Judensau-Denkmal in Wittenberg.

Sicher, es gibt viele Konflikte, bei denen die Religion nicht wirklich ursächlich und inhaltlich beteiligt ist, sondern nur vorgeschoben wird, um die eigene Position zu legitimieren und Unterstützer zu finden. – Geschenkt. Doch wer will sich mit den verschiedensten Themen befassen und dabei Religion und Glauben außen vor lassen? Ganz gleich, ob es um den Nahost-Konflikt geht, die Politik des Iran und seine Gegnerschaft zu Saudi-Arabien (und dessen Führungsanspruch), den weltweiten islamistischen Terror, den wachsenden Antisemitismus, das Aufkommen des Populismus und die Wahl der Präsidenten der USA und von Brasilien, Putins starke Stellung in der russischen Gesellschaft, wie sie durch die orthodoxe Kirche mit ermöglicht wurde, Chinas Unterdrückung der Uiguren und vieles, vieles mehr.

Religion als Ressource für die Demokratie
Der Philosoph Jürgen Habermas weist schon lange auf die wachsende Bedeutung der Religion hin. Und er ist zweifellos ganz und gar unverdächtig, ein Frommer oder Religiöser zu sein. Habermas geht es im Kern um die Frage, wie Menschen heute ins Gespräch miteinander kommen, damit Verständigung und Zusammenhalt erreicht werden kann. Er sieht in der Religion nicht nur einen entscheidenden Anker- und Ausgangspunkt für die Identität des modernen Menschen. Denn sie stiftet Identität, gibt Bedeutung und ist zudem eine entscheidende Ressource, um die Fragen des Lebens zu beantworten.

Habermas wäre aber nicht Habermas, wenn er nicht auch nach dem Ertrag der kommunikativen Verständigung fragen würde. Vor dem Hintergrund einer erodierenden staatsbürgerlichen Solidarität blickt er auf die Religion, die ein Empfinden für entscheidende Fragen des Lebens behalten hat: Seien es Lebenskrisen oder Leid. Die Religion sei deshalb nicht nur wichtig für Fragen der Sinnstiftung, sondern auch des sozialen Miteinanders. Denn in der heutigen Gesellschaft scheint die Empathie für andere verlorenzugehen und im Geschrei wütender Bürger oder im Desinteresse der Menschen auf der Strecke zu bleiben.

Aus dieser Einschätzung der Bedeutung von Religion entstand der Blog www.zweikoepfe.net. Wenn Sie der grundlegenden Einschätzung der beiden Autoren und Verantwortlichen, was die Bedeutung der Religion angeht, nicht folgen wollen oder können, ist das nicht weiter tragisch. Es reicht völlig aus, wenn sie unsere Beiträge lesen, sich damit auseinandersetzen und sie zu schätzen wissen.