Wenn der Mensch zur Ware wird

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Minderjährige Mädchen werden auf den Philippinen von Mitarbeitern der "International Justice Mission" aus einem Bordell befreit. Foto: IJM Deutschland e.V.

Der achtjährige Junge entkam nur knapp dem Tod, als er aus dem eingestürzten Schacht gezogen wurde. Täglich schuftete er zehn bis zwölf Stunden in der Mine unweit von Geita im Osten von Tansania. Die Goldmine war eher ein Loch, kaum größer als ein Quadratmeter, und in 70 Metern Tiefe. Für Dietmar Roller war die Rettung des Jungen die erste direkte Begegnung mit Sklaverei, denn der Junge arbeitete als Sklave für einen Minenbesitzer.

Arme sind schutzlos

Seit vielen Jahren engagierte sich Roller in der Entwicklungshilfe, für verschiedene Organisationen und auch als freier Consultant für Hilfsorganisationen. Doch bei „International Justice Mission“ (IJM) fand er eine Ausrichtung, auf die er „lange gewartet hatte“. Denn ihn beschäftigte schon lange, wie schutzlos Arme sind. „Es gibt sehr viel Elend in der Welt. Aber für mich ist Menschenhandel und moderne Sklaverei die größte Tragödie in unserer heutigen Zeit, weil man den Menschen die Freiheit nimmt und auch das Recht sich zu entfalten. Stattdessen werden sie zur Ware degradiert und dienen dem Gewinnstreben.“

Rechtsbrüchen ausgeliefert

Dietmar Roller, Vorstandsvorsitzender der “International Justice Mission” in Deutschland, kämpft gegen moderne Sklaverei. Foto: IJM Deutschland e.V.

Wer für Armut etwas tun wolle, sagt Roller, dem gehe es meist um Versorgung, Bildung, Zugang zu Wasser oder Gesundheit, aber kaum um Recht. Doch es sei eben besonders die Recht- und Schutzlosigkeit von Armen, die sie in die Fänge von Sklavenhaltern treibe. „Armut ist nicht die Abwesenheit von Reichtum“, betont Roller, „arm ist, wer an den Rand gedrängt wird und nicht teilhaben kann an dem, was sich entwickelt und vorangeht. Arme sind Rechtsbrüchen ausgeliefert, weil es immer wieder rechtsfreie Räume gibt, in denen sie ohne Risiko ausgenutzt werden können.“ Geschäftsmodelle im rechtsfreien Raum funktionierten, weil niemand rechtlich dagegen vorgehe.

40 Millionen Sklaven weltweit

Für Roller sind Sklaverei und Menschenhandel noch viel zu wenig im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Schätzungen zufolge sind es weltweit über 40 Millionen Menschen, die in modernen Formen der Sklaverei leben. Sklaverei sei lukrativ: 150 Milliarden Dollar Gewinn werde weltweit mit Menschenhandel und moderner Sklaverei erzielt. Das entspreche in etwa der Größenordnung des weltweiten Waffenhandels oder des Drogenhandels.Arme sind besonders verletzlich

Für Dietmar Roller war die Frage der Gerechtigkeit schon als junger Mensch wichtig. Mit dem Thema Armut wurde er als 18-Jähriger konfrontiert. Mit einem Freund im Norden Kenias  unterwegs, erlebten sie einen folgenschweren Unfall: Die beiden jungen Männer fuhren einen Geländewagen und wurden von einem Lkw von der Straße abgedrängt. Dabei erfassten sie einen Mann, der am Straßenrand Maiskörner aufklaubte. Der Mann war sofort tot. „Das hat mir gezeigt, wie verletzlich Leben und vor allem das Leben von armen Menschen ist“, sagt Roller. Das Erlebnis sei entscheidend gewesen, als er sich fragte, was er einmal beruflich machen und erreichen wolle. Er nahm dann ein Studium der Theologie und für Interkulturelle Studien in Basel und Columbia (USA) auf.

Als junger Vater nach Tansania

Grundlegend für seine Vorstellung von internationaler Hilfsarbeit wurde sein erster, fast zehnjähriger Aufenthalt in Tansania. Als junger Vater ging er mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in das ostafrikanische Land, um bei der HIV-und Aids-Prävention und der Jugendarbeit einer kirchlichen Hilfsorganisation mitzuarbeiten.

Bereit sein zu lernen

Hier habe er mit anderen zusammen viele Projekte entwickeln können. In dieser Zeit sei ihm wichtig geworden, dass es entscheidend sei, solche Projekte im Miteinander und mit einer Lernbereitschaft gegenüber den Einheimischen anzugehen. Es brauche eine gehörige Portion Demut, sich zurückzunehmen und nicht zu meinen, man habe aufgrund seiner Bildung und Ausbildung immer auch die bessere und vor allem schnellere Lösung parat. Der Westen habe einen stark individualistischen Ansatz. Er setze auf die Leistung des Einzelnen. Dies gehe aber oftmals völlig an den Bedürfnissen der Afrikaner vorbei. So gebe es unter den Bantu die Redeweise „Ich bin, weil wir sind“ – das zeige, wie sehr Afrikaner sich durch Gemeinschaft und Miteinander definierten. „Man selbst ist da als Einzelner nicht mehr so wichtig. Das war für mich ganz wichtig zu lernen“, betont Roller.

Latenter Rassismus

Entscheidend sei es daher, auf Augenhöhe miteinander umzugehen. Immer wieder bestehe die Gefahr, dass man das, was man gelernt habe und aus seiner Kultur mitbringe, zum Maßstab mache und als überlegen ansehe, sich damit aber in einem „latenten Rassismus“ bewege. Das könne man nur vermeiden, wenn man zu einem „Arbeiten in Gemeinschaft“ bereit sei.

Angebote für jungen Menschen

In Tansania ereigne sich die Jugendarbeit in einer Kultur, die nur Erwachsene wirklich ernst nehme. Hier sei es daher wichtig, die jungen Menschen zu unterstützen und ihr Potenzial zu entfalten. So wurden in seiner Zeit Ausbildungen in den Bereichen Holz, Metall, Nähen und kaufmännischer Bereich angeboten, um den jungen Menschen eine Grundlage für eine eigene materielle Existenz zu schaffen. Auch das Gespräch über Sexualität und die Prävention bei Sexualkontakten war Teil der Projekte. Ostafrika ist eines der Gebiete mit der höchsten HIV- und Aids-Rate.

Es lässt sich sehr wohl etwas ändern

Viele Menschen glaubten nicht, sagt Roller, dass sich Strukturen in einem Land wirklich verändern ließen, zumal dann, wenn die Korruption weit verbreitet sei. Dietmar Roller war schon in über hundert Ländern der Welt und betont, dass es überall auch Menschen gebe, die sich für Gerechtigkeit stark machten und dafür ihr Leben einsetzten. Wenn man diese Menschen bei Polizei und Justiz eines Landes ermutige und unterstütze, bleibe das nicht ohne Wirkung auf andere, die sich bis dahin eher indifferent verhalten hätten. „Auch bei noch so viel Korruption, gibt es immer Leute, mit denen man zusammenarbeiten kann. Menschen, die sagen, dass sie einen Unterschied machen wollen.” Wenn man diese unterstütze, könne man Strukturen langfristig verändern.

Arbeit von IJM Deutschland

Der deutsche Verein von „International Justice Mission“ (IJM) hat sein Büro in Berlin. IJM arbeitet mit verdeckten Ermittlern, Anwälten, Sozialarbeitern und Psychologen, um versklavte Menschen zu befreien und gegen die, die daraus Kapital schlagen, vorzugehen.  80-90 Prozent der Spenden für den deutschen Verein kommen von Einzelspendern. Feste Partnerschaften hat der deutsche Verein mit Projektbüros in Indien (Mumbai), Uganda und der Dominikanischen Republik. Außerdem wurden 2018 Projekte in Kambodscha, Ghana, Thailand, auf den Philippinen und in Indien (Chennai) unterstützt.

Teamleitung, Lobbyarbeit und Reisen

Zu Dietmar Rollers Arbeitsalltag gehört die Führung und Entwicklung des 17-köpfigen Teams, darunter viele Teilzeitmitarbeitende, Gespräche mit Politikern und Vertretern von Unternehmen und Kooperation mit anderen Organisationen im Ausland, wohin ihn viele Reisen führen. Neben den Mitarbeitern im Büro und dem Präsidium gibt es deutschlandweit etwa 750 Ehrenamtliche, die IJM bekannt machen und regionale Politikerkontakte knüpfen.

Aufbau einer Arbeit in Bukarest

Seit März unterstützt IJM Deutschland ein neues Büro in Rumäniens Hauptstadt Bukarest. Hier schaue man nach Strukturen der Zwangsprostitution (auch von Minderjährigen) und anderen Formen von Sklaverei. Immer wieder gebe es Lücken, wo das Recht nicht funktioniere und sich kriminelle Strukturen entwickelten. Diese gelte es aufzudecken und ins Blickfeld von Polizei und Justiz zu bringen. Etwas, was IJM durch Hilfe bei der Ausbildung der Behörden unterstützt. Zurzeit liegt der Schwerpunkt auf dem Aufbau von Kontakten und dem Erarbeiten einer Strategie für die zukünftige Programmarbeit.