Ein Kommentar von Norbert Abt
Mitte Oktober hinderten linke Aktivisten den ehemaligen Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière daran, eine Lesung beim Literaturherbst in Göttingen zu halten. Wenig später störten Studenten in der Hamburger Universität den AfD-Gründer Bernd Lucke, der seine Volkswirtschafts-Vorlesung halten wollte. Zurzeit kann Lucke seine Vorlesung nur unter Polizeieinsatz halten.
Mehr als Übermut
Man kann diese Vorkommnisse als Beispiel für engagierten und übermütigen studentischen Widerstand halten. Doch andere nicht zu Wort kommen zu lassen ist undemokratisch, selbst wenn es in dem moralischen Gewand daherkommt, man kämpfe für gute Ziele und die Demokratie. Doch das rechtfertigt solche Aktionen nicht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier machte dazu deutlich: „Was wir gewiss nicht brauchen sind aggressive Gesprächsverweigerung, Einschüchterung und Angriffe.“ Dies gelte für Politiker ebenso wie für „umstrittene Professoren in Hörsälen“.
Bärendienst für die Demokratie
Das Verhalten der Aktivisten und Störer ist eine Form von Gewalt, die den Andersdenkenden nicht zu Wort kommen lässt. Das ist ein Bärendienst für eine gesellschaftliche Demokratie. Diejenigen, die hier Lesungen und Vorlesungen unmöglich gemacht haben, sind keine Verteidiger, sondern Totengräber der Demokratie.
Zumal im Fall Lucke noch etwas ganz anderes eine Rolle spielt: Hier hat ein ordentlich berufener und angestellter Professor seinen Lehrdienst wieder aufgenommen. Da geht es nicht um Politik. Es wäre vielmehr Sache linker studentischer Gruppen im Asta oder anderen Gremien der Universität, ihre Opposition deutlich zu machen und in diesem Rahmen für ihre Überzeugungen zu kämpfen.
Dass man mit den politischen Einstellungen von de Maizière und Lucke nicht einverstanden ist, ist eine Sache, dass man sie mit allen Mitteln am Reden hindert, eine ganze andere. Denn es ist destruktiv und intolerant, Menschen am Reden zu hindern.
Wir brauchen die Debatte
Stattdessen brauchen wir die Debatte in unserem Land mehr denn je. Wir müssen reden, und zwar über einige Themen und Fragen: das gesellschaftliche Miteinander – Veränderungsprozesse durch die Digitalisierung – die Herausforderung des Klimawandels – die Auseinandersetzung mit rechten und linken Extremen und mit Populismus.
Andere Meinungen aushalten
Um es nochmal zu sagen: Wir brauchen zurzeit die Debatte und das Gespräch mehr denn je. Wir brauchen eine lebendige Demokratie, die sich darin ausdrückt, andere Meinungen anzuhören, ihnen ihren Platz zu lassen, sie zu respektieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Wir brauchen eine lebendige Demokratie, in der Argumente ausgetauscht werden und gestritten wird und nicht Andersdenkende mundtot gemacht werden. Wir müssen es wieder lernen, uns mit anderen und ihren Argumenten auseinanderzusetzen und diese auch auszuhalten.
Kanzlerin ist eine Leerstelle
Die Kanzlerin ist in dieser Frage leider eine riesengroße Leerstelle: Sie beteiligt sich nicht an Diskussionen, geschweige denn, dass sie Debatten anstößt. Hier wird sie ihrer Rolle als Spitzenpolitikerin und Regierungschefin nicht im Geringsten gerecht.
Menschen, die Andersdenkende am Reden hindern, sind Totengräber der Demokratie. Wenn wir nicht auf einem Friedhof leben wollen, wo nur ganz wenige in der Trauerhalle sprechen, dann müssen wir toleranter, streitbereiter und auch streitlustiger werden, anstatt uns nur zu empören und von anderen abzugrenzen.
Nur so entsteht der Boden für ein funktionierendes Miteinander, für Kompromisse und für mehrheits- und tragfähige Lösungen in einer Welt, die immer komplizierter wird. Nur so entsteht der Boden, den wir brauchen für ein lebendiges Miteinander und eine Zukunft unserer Gesellschaft.